„Als der Prinz um Hilfe rief, rettete die mutige Prinzessin ihn aus der misslichen Not und nahm ihn mit in ihr Königreich. Fortan herrschten sie als Königin und Prinzgemahl, und sie erlebten noch viele spannende Abenteuer.“
Prinzessinnengeschichten sind mittlerweile anders als vor 20 Jahren. Um Mädchen heutzutage zu verstehen und im Marketing mit Produkten oder Erlebnissen richtig anzusprechen, braucht es Klarheit über die Veränderungen, denen solche Geschichten im Laufe der Zeit unterworfen sind. Filme, Geschichten und auch Spielzeug spiegeln die aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten wider – damit auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt.
Zugegeben: Prinzessinnengeschichten hatten über sehr lange Zeit hinweg die Aufgabe, den Status Quo der bürgerlichen Geschlechterordnung zu erhalten. Regelmäßig wurde eine Geschichte erzählt, in der die Heirat mit dem wunderbaren Prinzen die einzige Erfüllung der Prinzessin ist. Das Warten auf den Prinzen ist der einzige Lebenszweck und das Hüten des Heims – während der Prinz draußen in der weiten Welt große Abenteuer besteht – die einzige Freude. Das ist ein Mädchentraum, der seit spätestens der Mitte des 20. Jahrhunderts überholt ist.
Mädchen haben heute andere Träume
Mädchenträume sind nun differenzierter als der Gesang von Grazien vergangener Zeiten oder in rosa Tüllkleider eingehüllter Märchenfiguren, die vom Prinzen gerettet werden und mit ihm auf einem weißen Einhorn in den Sonnenuntergang reiten. Die Einhörner sind immer noch weiß, die Kleider immer noch rosa, aber die Erzählstruktur und der Inhalt der Geschichten hat sich verändert.
Kleine Mädchen werden heutzutage mit anderen Rollenbildern und Vorbildern in Film und Fernsehen konfrontiert als noch vor 30 Jahren. Im Marketing müssen wir daher sehr darauf achten, für Mädchen (und natürlich auch für Jungs) Geschichten mit HauptdarstellerInnen zu erzählen, die deren Medienrealität widerspiegeln.
Heute denkt ein Mädchen, wenn es „Prinzessin“ hört, hauptsächlich an sie: Elsa und Anna, die beiden Schwestern aus den Filmen Frozen I und II. Männer, und besonders Prinzen, spielen in beiden Filmen nur noch Nebenrollen. Die Schwestern retten sich selbst oder einander, und erzählt werden klassische HeldInnenreisen, in denen die Heldin durch viele Abenteuer zu sich selbst findet und so neue Kraft und Mut für weitere Heldentaten gewinnt.
Prinzen sind nicht mehr erforderlich – wozu auch? Der Mut und die Überzeugung zu siegen, kommen aus der Heldin selbst. Fremdbestimmung ist nicht gewünscht. Die Heldin geht selbstbewusst ihren Weg. Der Prinz (heute: „love interest“) ist eher hübsches Beiwerk und vielleicht eine schöne Belohnung am Ende des steinigen Weges.
Warten auf den Prinzen: Schneewittchen und Cinderella
Sehr gut kann man diese Veränderung des Frauenbildes in Film und Fernsehen anhand der Disney-Prinzessinnen erklären: Die ersten Prinzessinnen (Cinderella, Schneewittchen) waren stark vom Frauenbild der dreißiger bis fünfziger Jahre geprägt und müssen im Kontext der damaligen Werte und Frauenbilder betrachtet werden.
Schneewittchen, eigentlich eine Prinzessin, erfüllt ihre Pflichten als Hausfrau bei den sieben Zwergen ganz wunderbar: Fast den ganzen Film hindurch putzt sie, bis alles blitzblank ist. Als der Prinz auf der Bildfläche erscheint, liegt Schneewittchen – nachdem es von dem giftigen Apfel gegessen hat – wie tot in ihrem Schrein. Nur der Prinz kann sie retten. Bei Cinderella ist es ähnlich. Erst der Prinz erlöst sie aus ihrer misslichen Lage und führt sie heim ins Königsschloss. Dafür muss sie nur hübsch sein, gute Hausfrauenarbeit erledigen („die Guten ins Töpfchen …“) und schön singen.
Ich habe auch etwas zu sagen: Arielle
Durch die Frauenbewegungen Ende der sechziger bis in die neunziger Jahre werden auch Prinzessinnen in dieser Zeit selbstbestimmter und wünschen sich, ihr eigenes Leben gestalten zu können. Arielle, die kleine Meerjungfrau (1989), markiert den Wendepunkt von der passiven Prinzessin zur selbstbestimmten Frau, die ihr eigenes Leben in die Hand nimmt und dafür auch bereit ist, Opfer zu bringen – nämlich ihre Stimme. Am Ende bekommt sie ihren Prinzen und bestimmt selbst, wie sie leben möchte.
Starke Kämpferin der Jahrtausendwende: Pocahontas
Eine Weiterentwicklung im Prinzessinnenmythos bietet die Geschichte der starken Kämpferin Pocahontas: Sie lehnt den Mann, den ihr Vater für sie ausgewählt hat, ab und folgt ihrer Liebe zu einem anderen Mann. Hier gibt es zum ersten Mal in der Disney-Filmgeschichte kein Happy End mit einem Prinzen, sondern ein Happy End einer typischen Heldenreise. Die Heldin findet durch ihre eigenen Stärken und die Überwindung eigener Ängste zu sich selbst. Dafür trifft Pocahontas die schwere Entscheidung, ihren Prinzen ziehen zu lassen.
Es geht auch ohne Prinzen: Merida
Die irische Prinzessin Merida (2012) möchte Bogenschützin werden und ist entschlossen, ihren eigenen Weg im Leben zu gehen. Als ihr von ihrem Vater drei Heiratskandidaten – zugegeben: es sind ziemliche Schwächlinge – präsentiert werden, bricht sie aus ihrem Schicksal aus, missachtet uralte und heilige Regeln, flüchtet aus dem heimatlichen Schloss und wird durch viele Abenteuer und mystische Begegnungen zu der Bogenschützin, die sie immer sein wollte. Zuletzt steht eine Heirat außer Frage, denn wer braucht schon einen Prinzen, wenn „frau“ selbst die beste Bogenschützin von ganz Irland ist? Also Frauenpower pur, wie sie in den Nuller-Jahren angesagt war.
Girl Power: Starke Frauen auf dem Weg zu sich selbst
Und damit sind wir wieder bei Elsa und Anna angelangt, die das Frauenbild – die Girl Power – der neuen Zeit verkörpern. Diese Prinzessinnen sind auf dem Weg zu sich selbst. Elsa kommt ganz ohne Mann aus, sie wird von magischen Kräften gerufen und ist im Spiel der Kräfte ein bestimmendes Element. Sie kämpft, sie siegt. Sie sucht, sie findet, und sie herrscht über ihre Zweifel und Ängste mit Selbstbestimmung und aus eigener Kraft heraus. In der Einsamkeit kann sie ihre Kräfte frei entfalten. Let it go!
Heldinnen im Marketing
Meine Tipps für Ihre jungen, weiblichen Zielgruppen: Erzählen Sie differenzierte Mädchengeschichten. Kleinere Mädchen lassen sich vom rosa Prinzessinenmythos noch einfangen, größere Mädchen wollen mehr Selbstbestimmung und Tiefe erleben. Sie wollen erfahren, wie ihre Heldinnen zu sich selbst finden und über ihr Leben selbst bestimmen. Mit oder ohne Prinz.
Ein weiterer wichtiger Punkt: Mädchen wollen immer soziale Interaktion erleben. Erzählen Sie also in ihren Geschichten, wie Teams zusammenarbeiten, FreundInnen einander helfen und Unterstützung von unerwarteter Seite kommt. Übrigens: Auch Buben finden die modernen „Haudrauf“-Heldinnen viel interessanter als die rosa Prinzessinnen vergangener Zeiten.