BMVIT

Österreichischer Stand der Technik - einst und jetzt

Rückblick: Wie war es früher?

„In Österreich sollen die sichersten Seilbahnen betrieben werden.“ Diese vorbildliche nationale Zielsetzung wurde einst nicht nur im „Seilbahnland“ Österreich im Alleingang verfolgt. In vielen Ländern wurden nach bestem Wissen und Gewissen und nach sorgfältiger Abwägung eigener und internationaler Erfahrungen und viel Erfindergeist anspruchsvolle technische Standards entwickelt.

Die zum Teil sehr unterschiedlichen nationalen Anforderungen erwiesen sich oftmals für Produkte fremdländischer Hersteller und den europäischenMarkt als ungünstig. Als Beispiel für einen ehemals national verbindlichen Stand der Technik wäre die Klemmkraftprüfung zu erwähnen, ein Prüf- und Messverfahren, welches die tatsächlich am Seil auftretende Klemmkraft auswerten konnte. Eine durchaus erfolgreiche nationale Entwicklung ist hingegen die Durchfahrsicherung, ein freier und universell einsetzbarer Überwachungsstandard für die Kontrolle der Stationsdurchfahrt von Fahrzeugen.

In der Internationalen Seilbahnrundschau, Ausgabe 1/2009, moniert nun der anerkannte österreichische Gerichtssachverständige Univ.-Prof. Dr. Josef Nejez in seinem Fachbeitrag „Was tun gegen Förderseilentgleisungen?“, die für den Gesetzesvollzug verantwortlichen inländischen Seilbahnbehörden sollten im Hinblick auf § 12a Seilbahngesetz 2003 dem Stand der technischen Entwicklung der neuen Seillageüberwachung mehr Bedeutung beimessen, denn: Ich interpretiere diese fortschrittliche Entwicklung als Stand der Technik.

Würde ich vom Richter gefragt, ob der Unfall zufolge Seilentgleisung mit einer Überwachung modernen Entwicklungsstandes zu vermeiden gewesen wäre, müsste und würde ich aussagen, dass der Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht eingetreten wäre. Eine rechtlich bindende Entscheidung über den in Österreich geltenden Stand der Technik bleibt den Seilbahnbehörden vorbehalten. Eine interessante Rechtsmeinung, deren Umsetzung abgeklärt werden soll:

Das neue Genehmigungsverfahren

Seit dem Inkrafttreten des SeilbG 2003 im Mai 2004 ist auch für Österreich das Inverkehrbringen von Teilsystemen und Sicherheitsbauteilen ausschließlich auf der Grundlage der europäischen Richtlinie 2000/9/EG geregelt.

Das Inverkehrbringen darf weder behindert noch eingeschränkt werden, wenn die Einhaltung der grundlegenden Anforderungen nach Anhang II der Richtlinie geprüft und in einem ordnungsgemäß durchgeführten Zertifizierungsverfahren bescheinigt wurde. Die grundlegenden Anforderungen beinhalten den europäischen Stand der Technik; sie müssen eingehalten werden, um dem Stand der Technik Rechnung zu tragen.

Die Seilbahnanlage, die Teilsysteme, sowie alle Sicherheitsbauteile müssen so ausgeführt werden, dass sie vorhersehbaren Belastungen standhalten, wobei äußere Einflüsse zu berücksichtigen sind und dem Stand der Technik Rechnung zu tragen ist.

Für den Nachweis der grundlegenden Anforderungen gilt eine gesetzliche Konformitätsvermutung: Wenn Sicherheitsbauteile oder Teilsysteme einer nationalen Norm in Umsetzung einer harmonisierten Norm entsprechen, ist ohne besondere Nachweise Übereinstimmung mit den betreffenden grundlegenden Anforderungen dieser Richtlinie anzunehmen.

Bei entsprechend dieser Norm hergestellten Teilsystemen sowie Sicherheitsbauteilen wird davon ausgegangen, dass sie den betreffenden grundlegenden Anforderungen genügen.

Darüber hinaus ist festgelegt, dass Nationalstaaten seit dem Inkrafttreten der europäischen CEN-Normenreihe für Seilbahnen keine eigenen Seilbahnnormen herausgeben dürfen und vorhandene Normen zurückziehen müssen. Hieraus folgt: Für durch EU-Recht geregelte Produkte des freien Marktes, dies betrifft insbesondere Sicherheitsbauteile und Teilsysteme, ist für nationale Sicherheitsspezifikationen im Sinne eines „nationalstaatlich definierten“ Standes der Technik kein Spielraum vorhanden. Sicherheitsanalysen und Teilgutachten zum Sicherheitsbericht kennzeichnen das neue Genehmigungsverfahren.

Weisungsfreien und unabhängig bestellten Gutachtern ist es natürlich freigestellt, über zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zu verfügen, wenn dies projektspezifisch indiziert ist. Darüber hinaus sind beim Seilbahnbau auch Fachgebiete betroffen, die durch EU-Spezifikationen nicht geregelt sind; hier sind nationalstaatliche Regelungen notwendig.

Wieviel Überwachungstechnik benötigt eine richtlinienkonforme Seilbahn?

Die Sicherheitsgrundsätze legen die Reihenfolge fest: Sichere Konstruktion –Schutzmaßnahmen (Überwachung) – Vorsichtsmaßnahmen. Kann beispielsweise der Hersteller ein Seil konstruktiv so führen, dass es zu keinem Verlust dieser Funktion kommt, dann muss er dieses Konstruktionsprinzip anwenden. Wirtschaftliche Erfordernisse sind zu berücksichtigen, begründete Abweichungen zu Normen sind möglich.

Die Anforderungen an eine Rollenbatterie sind in den grundlegenden Anforderungenund in der CEN-Normenreihe für Seilbahnen definiert. Alle benannten Stellen und Herstellerfirmen, auch die Hersteller einer fortschrittlichen Seillageüberwachung, kommen seit 5 Jahren zum gleichen Ergebnis: Für den allgemeinen Anwendungsfall – Wind ist keine außergewöhnliche Lastannahme – erfüllen die als Sicherheitsbauteil zertifizierten Rollenbatterie-Konstruktionen die grundlegenden Anforderungen der Richtlinie 2000/9/EG und zwar ohne zusätzliches Seilauffangsystem und ohne zusätzliche Überwachungsanforderung.

Die Tragfähigkeit seitlicher Seilkräfte gehört zu den Anforderungen an eine Rollenbatterie; Verwendungsbedingungen und Einsatzgrenzen sind dazu erforderlich.

Nachrüstung alter Seilbahnen

Der im Artikel von Prof. Dr. Nejez angesprochene Unfall beim fixgeklemmten Sessellift Wixi-Fallboden wurde selbstverständlich auch von der österreichischen Seilbahnbehörde wahrgenommen und analysiert. In den Sicherheitsempfehlungen der Unfalluntersuchungsstelle ist die Option einer zusätzlichen Seillageüberwachung an letzter Stelle gereiht.

Sollen daher österreichische Behörden bei Seilbahnen, die keiner EU-Regelung unterworfen sind, die Nachrüstung zusätzlicher Seillageüberwachungen durchsetzen? Vom Gleichbehandlungsgrundsatz abgesehen, würde die Nachrüstung nicht einfach realisierbar sein. Der einzig relevante Sensor eines österreichischen Herstellers ist kein freier und für die Allgemeinheit verfügbarer Standard; er ist für bestimmte Rollenbatterietypen zertifiziert.

Alle anderen in der ISR 1/2009 erwähnten Systeme sind ebenfalls vielversprechend, aber derzeit so wenig verbreitet, dass sie für die Beeinflussung eines technischen Standards (noch) keine Bedeutung erlangt haben.

Weiterentwicklung europäischer Standards

Schließlich darf die Frage an den Vorsitzenden des österreichischen Normungskomitees für Seilbahnen, Prof. Dr. Nejez, gerichtet werden: Wurden informelle Kontakte zu den entscheidungsbefugten Organen der Mitgliedsstaaten hinsichtlich einer konsensgemäßen Weiterentwicklung des europäischen Standes der Technik aufgenommen, und welcher Zeithorizont ist für die terminlich nun fällige Überarbeitung der CEN-Normenreihe für Seilbahnen eingeplant?

Die Weiterentwicklung internationaler Standards nimmt Zeit in Anspruch, wenn Interessen der Hersteller und des Marktes, der Betreiber und Konsumenten betroffen sind und Kosten-/Nutzenanalysen naturgemäß von unterschiedlichen Standpunkten bewertet werden müssen; ein Beispiel: Prof. Ing. Dr. phil. Biegelmeier, ein Pionier der elektrischen Sicherheitsforschung, hat in umfangreichen Selbstversuchen nachgewiesen, dass bei einem gesunden Erwachsenen ein schwerer Stromunfall bereits bei einer Elektrisierung mit etwa 50 mA Wechselstrom (50 Hz) möglich ist.

Da eine so geringe Stromstärke von 50 mA das mechanische Schaltschloss eines Schutzschalters nicht auslösen kann, war es naheliegend, die benötigte Energie über mehrere Stromhalbwellen in einem Kondensator zu sammeln und danach stoßartig freizugeben. Der hochempfindliche FI-Schutzschalter mit einem Auslösestrom von35 mA wurde im Jahre 1958 erstmals serienmäßig produziert.

War dieser technische Fortschritt sofort eine „conditio sine qua non“?

Die Diskussion über den Nutzen und die Notwendigkeit des hochempfindlichenFI-Schutzes wurde intensiv und kontrovers geführt.

Erst mit Inkrafttreten derElektrotechnikverordnung 2002 ist er als allgemeine Schutzmaßnahme verbindlichund „Stand der Technik bei österreichischen Seilbahnen.“

Resümee

• Realpolitisch entsprechen alle am europäischen Markt ordnungsgemäß in Verkehr gebrachten Produkte - nicht nur Seilbahnprodukte - in Österreichdem Stand der Technik.

• Nationale Behörden überwachen das Inverkehrbringen (Marktaufsicht)

• Für durch EU-Recht geregelte Produkte gilt: Die Weiterentwicklung von Sicherheitsanforderungen liegt bei den zuständigen Gremien. Hier sind Produzenten, Betreiber und Behörden international vertreten und zuständig.

• Seilbahnbehörden beobachten Unfallereignisse analytisch und genau. Die Anordnung von generellen Sicherheitsmaßnahmen ist möglich, wenn Widersprüche zu europäischem Recht und Behinderungen von zertifizierten Produkten auszuschließen sind.

Dipl.-Ing. Albert SeiserAmtssachverständiger des BMVIT– Abt. IV/SCH3


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