Foto: Archiv R. Gric
SEILBAHNGESCHICHTE(N)
Abseilen oder Bergebahn?
In meiner Zeit als Amtssachverständiger für Seilbahntechnik, also in den Jahren 1980 bis 1987, gehörte die Durchführung von Bauverhandlungen und Abnahme von Bahnen im Zuge des Betriebsbewilligungsverfahrens zu meinen wichtigsten Aufgaben. Auf die Wintersaison 1985/86 wurde in Söll im Bundesland Tirol die „Seilbahn Söll“ als Pendelbahn geplant und dann gebaut, die zwei Bereiche im Skigebiet „Wilder Kaiser“ verbinden sollte, die durch ein tiefes V-Tal voneinander getrennt waren.
Bei dieser Bahn sollte es sich um eine möglichst einfache Anlage handeln, denn weder im Bereich der Talstation, noch bei der Bergstation gab es nennenswerte Infrastruktur wie beispielsweise Restaurationsbetriebe. So wurde etwa die Bergstation (Umlenkstation) – bei Pendelbahnen eher ungewöhnlich – als offene Station ausgeführt (Abb. 1), auch die Talstation wurde architektonisch eher schlicht gestaltet (Abb. 2).
Die schräge Länge der stützenlosen Trasse betrug 1.047 m, der Höhenunterschied lediglich 154 m. Die Förderleistung wurde bei der Nennfahrgeschwindigkeit von 10 m/s mit 60er-Wagen auf 970 P/h&R ausgelegt. Der Antrieb war als Stelling’scher Antrieb in der Talstation ausgeführt, auch der Schacht für die Trag- und Zugseilspanngewichte wurde hier situiert.
Art der Bergung
Wie bei jeder neuen Seilbahn war im Bauentwurf und bei der Bauverhandlung die Art der Bergung bei Unbeweglichkeit der Bahn festzulegen.
Grundsätzlich gibt es bei Pendelbahnen zwei Möglichkeiten der Bergung der Fahrgäste aus den Kabinen bei Unbeweglichkeit der Bahn:
• Bergung durch Abseilen ins Gelände,
• Bergung mit Bergefahrzeugen längs der Seile in die Stationen oder zu anderen geeigneten Aussteigstellen.
Die Auswahl der Bergeart war nach der in den 80er-Jahren gültigen Vorschriftenlage indirekt über den maximalen Bodenabstand eingeschränkt: In den Bedingnissen für den Bau und Betrieb von Seilförderanlagen mit Personenbeförderung, Abschnitt 20: Allgemeine technische und betriebliche Bestimmungen (Seilbahnbedingnisse SBB 76/20) des Bundesministeriums für Verkehr hieß es im Punkt 24,33:
Bei geschlossenen Fahrbetriebsmitteln richtet sich der noch zulässige Bodenabstand nach der Bergemöglichkeit. Der Bodenabstand soll nachstehende Werte nicht übersteigen:
• bei nicht begleiteten Wagen und Bergung durch Abseilen 60 m,
• bei begleiteten Wagen und Bergung durch Abseilen 100 m,
• bei Bergung längs des Seiles unbeschränkt.
Bei der Seilbahn Söll wurde der maximale Bodenabstand von 100 m bei der Überquerung des Talgrundes des genannten V-Tales über eine kurze Strecke um ca. 10 m überschritten. Streng genommen hätte das Bergekonzept also Bergung längs der Seile vorsehen müssen. Ein Abgehen von dieser Forderung war für mich als seilbahntechnischen Amtssachverständigen nicht ganz einfach, denn ein „soll“ in einer Vorschrift lag sehr nahe am „muss“, und man musste schon sehr gute Gründe dafür haben, eine geforderte Maßnahme durch eine vom Projektanten gewünschte – augenscheinlich auch kostengünstigere – Variante, nämlich Bergung durch Abseilen trotz Überschreitens des hierfür zulässigen Bodenabstandes von 100 m, zu ersetzen.
Nach ausführlichen Diskussionen habe ich der Bergung durch Abseilen mit Festlegung bestimmter Zusatzmaßnahmen zugestimmt. Gegen die Bergung längs der Seile sprach eine Reihe von Gründen. Wegen der nahezu horizontalen Bahn – Höhenunterschied lediglich 154 m auf 1.047 m Länge – war eine Lösung mittels Bergewagen mit Windenantrieb in der Bergstation nicht möglich. Es wären also entweder eine eigene Bergebahn mit einem Zugseil oberhalb der Tragseile oder selbstfahrende Bergewagen erforderlich gewesen – beides bei den gegebenen Anlageverhältnissen keine erstrebenswerte Lösung. Es galt also, zufriedenstellende Zusatzmaßnahmen für die Bergung durch Abseilen zu finden, die eine Überschreitung des zulässigen Bodenabstandes um ca. 10 % rechtfertigen konnten.
Rollgliss-Bergegerät
In der langen Geschichte der Pendelbahnen hat es verschiedene Fabrikate von Abseilgeräten gegeben. In den 80er-Jahren war bevorzugt das Rollgliss-Bergegerät der Firma Brda (siehe Kasten) im Einsatz. Als Bergeseil wird ein Kernmantel-Kunststoffseil verwendet, das mit einfacher Umschlingung über eine Reibrolle geführt wird, die in einer Drehrichtung eine Rücklaufsperre besitzt. Für das Aufseilen hat die Rolle also einen Freilauf, für das Abseilen ist die Rolle gesperrt, und durch die Gegenkraft am anlaufenden Seil wird an der Rolle eine Reibungskraft erzeugt, mit der die Geschwindigkeit des Abseilvorgangs gesteuert werden kann. Abb. 3 zeigt die moderne Version des Rollgliss-Bergegerätes, wie sie heute bei Pendelbahnen in Verwendung steht.
Der das Bergeseil bedienende Bergemann lässt das zum Rollgliss-Gerät anlaufende Seil durch den Handschuh der einen Hand gleiten; mit der anderen Hand bedient er das an seinem Gürtel befestigte Seilstoppgerät, welches das anlaufende Seil und damit den Abseilvorgang sichert.
Am vom Rollgliss-Gerät ablaufenden Strang des Bergeseiles ist eine Einrichtung zur Aufnahme der abzuseilenden Person angehängt. Es kann ein Sitzgeschirr, ein Sitzanker mit Brustgurt oder ein Bergesack sein. Die derart mit dem Bergeseil verbundene Person wird dann aus der Kabine entweder durch die einen Spalt breit geöffnete Wagentür oder durch eine Luke im Wagenboden auf das Gelände unterhalb des Wagens abgeseilt. Für die Aufhängung des Rollgliss-Gerätes ist am bzw. im Wagen eine entsprechend positionierte Befestigungsmöglichkeit angeordnet.
Mit steigendem Bodenabstand nimmt die Gefahr zu, dass die zu bergende Person durch Wind aus der lotrechen Richtung abgelenkt wird und nicht den vorgesehen Platz unter dem Wagen im Gelände erreicht, an dem sie die Bodenmannschaft des Bergetrupps erwartet. Bei Seitenwind etwa könnte die Person in einer Baumkrone neben der Trasse oder in nicht begehbarem Gelände landen.
Abseilvorgang mit Führungsseil
Hauptsächlich zur Beseitigung der genannten Gefahr des seitlichen Verwehens wurde von mir für den Abseilvorgang an der Seilbahn Söll eine – soweit mir bekannt ist – neue Lösung vorgeschlagen. Bevor mit dem Abseilen von Personen begonnen wird, wird vom Wagen aus ein Führungsseil – ein zusätzliches dünnes Seil, am Ende mit einem ausreichend schweren Gegenstand beschwert, etwa mit einem Paar Ski – zur Bodenmannschaft hinuntergelassen. Ein Mitglied der Bodenmannschaft übernimmt das Ende des Führungsseiles und begibt sich an eine geeignete Trassenstelle zum Empfang der abgeseilten Fahrgäste in der Nähe.
Entwicklung des Rollgliss-Bergegerätes
Im Jahr 1958 wurde durch den damaligen Betriebsleiter der Hörnlebahn, Otto Brda, gemeinsam mit Eduard Schlichting ein bahnspezifisches Rettungs- und Abseilgerät entwickelt. Es war das erste Abseil- und Rettungsgerät nach dem Prinzip der in einer Drehrichtung blockierenden und in der anderen Drehrichtug frei drehenden Rolle. Die Firma Rettungsgeräte Brda in Bad Kohlgrub, später als Rollgliss GmbH in Murnau weitergeführt, produzierte diese Geräte auch für andere Bahnen. Nach dem Ablauf des Patentschutzes von Otto Brda gibt es weitere Rettungs- und Abseilgeräte, die nach diesem oder einem ähnlichen Prinzip arbeiten. Das Rollgliss-Gerät selbst ist auch heute noch in geringfügig weiterentwickelter Form – nicht nur bei Seilbahnen – als Rettungsgerät im Einsatz.
Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass der Wagen an der Trassenstelle mit dem größten Bodenabstand zum Stillstand gekommen wäre, kann der Bedienstete an einer der Flanken des Talgrundes ein kleines Stück aufsteigen und eine Stelle aussuchen, bei der der Abstand zum Wagen, leicht schräg gemessen, sogar kleiner als 100 m ist. Noch wesentlicher als der Abstand ist jedoch die Eignung der Stelle zum Absetzten der abgeseilten Personen. Nun kann mit dem eigentlichen Bergevorgang begonnen werden, wobei die Berge-Gerätschaft zur Aufnahme der Person, z. B. das Sitzgeschirr, über einen Karabiner oder eine Seilschlaufe am Führungsseil eingehängt wird. Dadurch gleitet die abgeseilte Person entlang des Führungsseiles an die ausgewählte Stelle und wird dort von der Bodenmannschaft übernommen. Die leicht schräge Position des Führungsseiles verhindert ein Verwickeln zwischen Führungsseil und Bergeseil. Die leere Berge-Gerätschaft wird mit dem Bergeseil entlang des Führungsseiles zum Wagen hochgezogen (Freilauf der Reibrolle im Rollgliss-Gerät) und steht für den nächsten Abseilvorgang bereit.
Bergeübung im Zuge der Abnahmeprüfung
Die behördliche Abnahme der Seilbahn Söll fand in der zweiten Kalenderwoche 1986 statt. Die Bergeübung – ein obligatorischer Teil der Abnahmeprüfung – wurde mit Spannung erwartet. Einer der beiden Wagen wurde an die Stelle mit dem größten Bodenabstand gefahren und die Bahn abgeschaltet. Von der Talstation aus begab sich ein Bergetrupp bestehend aus vier Personen an die Trassenstelle unter dem Wagen. Im Wagen befanden sich außer dem Wagenbegleiter und mir noch einige Bahnbedienstete, die sich bereiterklärt hatten, an der Bergeübung teilzunehmen. Wir führten das Rollgliss-Gerät, das Führungsseil und ein Paar Ski im Wagen mit. Das oberhalb der Bodenluke mit einem Ende festgemachte Führungsseil mit dem angehängten Paar Ski wurde zusammen mit dem Bergeseil des ebenfalls über der Bodenluke an der Decke des Wagens verankerten Rollgliss-Gerätes durch die Bodenluke hinuntergelassen und am Boden übernommen. Es folgte die Bergung eines der Bediensteten in der oben beschriebenen Art. Als nächste Person ließ ich mich abseilen, um einen persönlichen Eindruck von dem gesamten Vorgang zu gewinnen. Ich war mit einem Funkgerät ausgestattet, mit dem ich das Stoppen des Abseilvorgangs verlangen konnte, um Fotos aus luftiger Höhe in Richtung Wagen (Abb. 4) und Boden (Abb. 5) zu machen.
Am Boden angekommen legte ich das Sitzgeschirr ab, es wurde zum Wagen hochgezogen, und ich beobachtete noch die Bergung des nächsten Bediensteten (Abb. 6). Danach beendete ich offiziell die Bergeübung und kehrte zu Fuß zurück zur Talstation.
Insgesamt erbrachte die Abnahmeprüfung der Seilbahn Söll ein zufriedenstellendes Ergebnis, und so wurde für sie am 10. Jänner 1986 die Betriebsbewilligung erteilt.
Im Jahr 2005 wurde der Betrieb eingestellt und die Anlage 2008 abgebaut – eine eher kurze Lebensdauer für eine Pendelbahn.
Bergung beim Einsessellift Hochsöll-Salvegipfel
Meinen dienstlichen Aufenthalt in Söll im Jänner 1986 habe ich noch aus einem anderen Grund in Erinnerung: Es war das einzige Mal in meiner Dienstzeit, dass ich an einer echten Bergung aktiv beteiligt war. Am dritten Tag der Abnahmeprüfung für die Seilbahn Söll frischte der Wind kräftig auf, und wir erhielten die Nachricht, dass der Betrieb des benachbarten Einsesselliftes Hochsöll-Salvegipfel eingestellt werden musste, weil an den obersten Stützen ein Entgleisen des Förderseiles zufolge Seitenwind drohte. Ein Leerfahren der Bahn war nicht mehr möglich, und so mussten die rund 75 Personen, die sich noch auf der Strecke befanden, abgeseilt werden. Die Bediensteten der Seilbahn Söll und ich fanden uns bei der Talstation des Sesselliftes ein und stellten uns als Helfer zur Verfügung.
Es wurden meiner Erinnerung nach fünf Bergetrupps zusammengestellt und ihnen fünf Trassenabschnitte zugeteilt, die offensichtlich in geübter Weise abgearbeitet wurden – vereinfacht beschrieben: Aufstieg eines Bergemannes auf die oberste Stütze des jeweiligen Trassenabschnittes, Einhängen des Seilfahrgerätes samt Bergegerät auf dem Förderseil, Fahrt des Bergemannes talwärts von Sessel zu Sessel mit Abseilen der Fahrgäste, Abstieg des Bergmannes unter Mitnahme des Seilfahrgerätes an der letzten Stütze des Trassenabschnittes. Meine Aufgabe bestand darin, gemeinsam mit einem weiteren Helfer die abgeseilten Fahrgäste am Boden zu empfangen, ihnen vom Sitzanker des Bergegerätes zu helfen und sie zu bitten, sich zur Talstation zu begeben.
Die Bergung ging zwar zügig vonstatten, dauerte aber ihre Zeit, und die Dunkelheit brach herein. Glücklicherweise war es möglich, den Lift von der benachbarten Piste aus mit den Scheinwerfern der Pistengeräte zu beleuchten. Die Reaktion der abgeseilten Fahrgäste war recht unterschiedlich. Die einen waren augenscheinlich froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, die anderen fassten die Bergung als Abenteuer auf unter dem Motto „Da haben wir zuhause etwas zu erzählen!“
Nach einer abschließenden Kontrolle der Trasse wurde bei der Talstation eine Abschlussbesprechung mit allen Beteiligten abgehalten. Meiner Meinung nach war die Bergung bestens organisiert, es kam nirgendwo Panik auf. Ich habe nicht nachgefragt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht die erste echte Bergung war, die am Einsessellift Hochsöll-Salvegipfel durchgeführt worden ist.
Der laut OITAF-Seilbahnstatistik aus dem Jahr 1971 stammende Einsessellift wurde im Jahr 2000 durch die 8er-Kabinenbahn Hohe Salve ersetzt.